Im Interview: Europaabgeordneter Romeo Franz (Bündnis 90/Die Grünen) spricht über Antiziganismus, die Umbenennung der Paprikasoße und Barbara Schönebergers verantwortungslosen Witz
Altlußheim. Rassismus und Diskriminierung sind aktuell die brandheißen Themeninden Medien. Oft geht es dabei wie bei der „Black livesmatter“-Bewegung um Diskriminierung gegenüber dunkelhäutigen Menschen. Jüngst rückt aber auch eine ganz andere Personengruppe in den Vordergrund dieser Debatte: Menschen mit Romani-Hintergrund, im Deutschen häufig als Sinti und Roma bezeichnet. Im Interview spricht Romeo Franz, Politiker (Bündnis 90/Die Grünen), Musiker und Europaabgeordneter, über Antiziganismus, die Umbenennung der „Zigeunersoße“ und Barbara Schönebergs rassistischen Witz. Franz ist selbst Sinto, wohnt in Altlußheim und war von 2014 bis 2019 geschäftsführender Direktor der Hildegard-Lagrenne-Stiftung. Außerdem engagiert er sich seit über 20 Jahren in der Bürgerrechtsarbeit zum Thema „Menschen mit Romani-Hintergrund“.
Herr Franz, seit wann setzen Sie sich aktiv gegen Antiziganismus ein?
Romeo Franz: In der ersten Hälfte der 1990er Jahre habe ich angefangen, Bürgerrechtsarbeit zu machen. Damals habe ich mich im Landesverband Deutscher Sinti und Roma Rheinland-Pfalz engagiert. Die Themen Bildung, Kultur und Musik waren dort für mich sehr wichtig – das liegt aufgrund meines Berufes als Musiker und Komponist nahe. Geprägt und sensibilisiert hat mich davor aber schon meine Geschichte. Meine Großmutter und meine Mutter haben den Holocaust überlebt und beide über 50 Jahre lang fürihre Entschädigung gekämpft. Das war für mich als Kind immer sehr präsent. Sechs Familienangehörige, Onkel und Tanten, habe ich im Holocaust verloren.
Wie haben Sie das als Kind wahrgenommen?
Franz: Diese Menschen waren immer ein Thema bei uns in der Familie. Nach einer Weile der Unterhaltung sprach man bei Treffen über die Verwandtschaft und dann wurden die Menschen erwähnt, die wir verloren haben. So haben die Angehörigen in unserer Familie weitergelebt. Meist ist es in Tränen geendet, wenn wir über die Verfolgungsgeschichte im Nationalsozialismus und das Ende gesprochen haben. Das war der Punkt, an dem alle stumm und traurig waren. Umso befremdlicher war es für mich, als in der Schule in der siebten oder achten Klasse – so Anfang der 1980er Jahre – dieses Thema im Geschichtsunterricht nie behandelt wurde. Man hat zu dieser Zeit knapp die jüdischen Menschen erwähnt, aber auch nur am Rande. In der Schule hat man gespürt, dass die Lehrer die Verfolgung von Menschen mit Romani-Hintergrund am liebsten tabuisiert hätten. Heute verstehe ich das viel besser.
Woran liegt diese Tabuisierung?
Franz: Die Lehrer haben die Geschichte des Nationalsozialismus selbst wenig reflektiert. Das haben sie unbewusst an die Kinder weitergegeben. Gerade die Geschichte der Menschen mit Romani-Hintergrund im Holocaust muss als Bildungsthema in die Curricula einfließen. Meine Tochter geht in Hockenheim zur Schule – selbst dort sind junge Lehrer über Menschen mit Romani Hintergrund und Antiziganismus kaum informiert. Hier muss man schon bei den Lehramtsanwärtern mit der Sensibilisierung beginnen, dass sie diese adäquat an ihre Schüler weitergeben können.
Sie meinen also, dass man schon im Studium die Geschichte von Sinti und Roma behandeln sollte?
Franz: Ja, das ist ganzwichtig. In meiner Bürgerrechtsarbeit gehörten zu meinen Aufgaben die Seminare für die Lehramtsanwärterin RheinlandPfalz. Diese hatten die Möglichkeit ein eintägiges Seminar, organisiert vom Landesverband, zu besuchen. Ich habe dann mit den Lehramtsanwärtern gesprochen und sie über die Thematik aufgeklärt. Leider war das freiwillig und keine Pflicht.Da merkt man, dass das Thema nicht so ernst genommen wird. Dass das sehr gefährlich ist, das zeigen uns Vorfälle aus der heutigen Zeit. Wir haben mit unglaublich schlimmen antiziganistischen Übergriffen zu kämpfen.
Haben Sie da ein konkretes Beispiel?
Franz: Ganz aktuell: In Dellmensingen bei Ulm haben Jugendliche einen Brandanschlag auf eine Familie mit Romani-Hintergrund ausgeübt. Die Familie hatte sich legal einen Platz für den Urlaub mit ihrem Wohnwagen gemietet. Die Jugendlichen kamen dorthin und warfen eine brennende Fackel auf den Wohnwagen, in dem eine Frau mit ihrem kleinen Baby war. Zum Glück fing der Wagen kein Feuer; der Prozess läuft gerade. Die Täter und die Dorfgemeinschaft sagen, sie seien weder Nationalideologen, noch rassistisch. Es sei doch normal, wenn „Zigeuner“ keinen Platz hätten. Das sei ja nicht rassistisch. Das sollte einem zu denken geben und zeigt, dass die Aufarbeitung des Nationalsozialismus in diesem Fall überhaupt nicht stattgefunden hat und Vieles einfach totgeschwiegen wird. Antiziganismus ist seit Jahrhunderten ein Teil des europäischen Kulturkodexes und außerdem die am stärksten tabuisierteste und ignorierteste Form des Rassismus.
Wie gehen Sie selbst dagegen vor?
Franz: Kürzlich ist im Europäischen Parlament mein Initiativbericht zu MenschenmitRomani-Hintergrund abgestimmt worden – mit einer großen Mehrheit dafür. Darin stehen die zukunftsweisenden Punkte, die die EU-Kommission europaweit in Angriff nehmen muss, die Inklusionsstrategien. Ich wehre mich dabei gegen das Wort Integration für alle marginalisierten Gruppen. Integration bedeutet für uns immer, einTeil eines Ganzen, einer Hauptkultur zu werden, die es so nicht gibt. Für die Betroffenen ist das die Aufforderung zur Angleichung. Dabei ist eine gleichberechtigte Teilhabe das Ziel – das heißt Inklusion. Wir müssen hin zu einer Gesellschaft, die Unterschiedlichkeiten akzeptiert. Wir können nicht alle gleich sein. Alle Mitgliedsstaaten der EU sollen nach der Vorstellung des Europäischen Parlaments nationale Inklusionsstrategien mit Einbindung von Angehörigen der Minderheiten ausarbeiten und darin verbindliche Ziele zum Kampf gegen Antiziganismus und zur Verbesserung der Situation von Menschen mit Romani-Hintergrund festhalten.
Was sind Ihre persönliche Erfahrungen mit Antiziganismus?
Franz: Ich habe viele Gespräche mit Menschen geführt, die gesagt haben: „Ja, Herr Franz, wenn die alle so wären wie Sie, dann hätten wir ja kein Problem.“ Das ist aber nur eine leere Worthülse. Denn sogar ich als Europaabgeordneter bin immer wieder Diskriminierung ausgesetzt. Selbst in meiner Umgebung gibt es Menschen, die in mir nicht den Abgeordneten, den ehemaligen Direktor und Musiker sehen, sondern einen „Zigeuner“.
Welche Vorurteile haben diese Menschen im Kopf?
Franz: Sie denken zum Beispiel, dass meine Familie und ich ein Lagerfeuer machen und unsere Kinder nicht zur Schule gehen. Diese Klischees treffen dann plötzlich auf mich. Ich könnte Bundespräsident sein und dennoch würde ich wegen meiner Ethnie Diskriminierung erfahren. Es gibt Umfragen, aus denen hervorgeht,dass 64bis 68ProzentderMenschen in Deutschland Sinti und Roma als Nachbarn ablehnen. Das heißt: Über die Hälfte der Menschen, die hier leben, wollen mich nicht als Nachbarn. „Wir sind ja keine Rassisten, aber…“, das ist der Spruch, der alles offen legt. Deshalb fordere ich in meinem Bericht eine verbindliche Vereinbarung. Die Nationalstaaten müssen prioritär gegen Antiziganismus vorgehen, um eine gleichberechtigte Teilhabe überhaupt möglich zu machen. Mit Diskriminierung und Rassismus schießt sich dieGesellschaftinseigene Bein, denn in der Vergangenheit sind schon einige Konflikte daraus entstanden, dass der eine dachte er wäre besser als der andere. Und plötzlich kann man selbst Opfer seines eigenenRassismuswerden.Deshalb halte ich die Zeit momentan für sehr gefährlich. Man hat nun mal keinen Einfluss darauf, wie und wo man geboren wird.
Knorrhatseine„Zigeunersauce“ in „Paprikasauce ungarischer Art“ umbenannt. Auf den sozialen Netzwerken hagelte es dafür Kritik. Warum müsse man denn eine Soße umbenennen, das sei übertrieben, so der Tenor. Was entgegnen Sie solchen Kritikern?
Franz: Für mich zeigt das einfach, dass hier die Sensibilität fehlt. Der „Negerkuss“ oder „Mohrenkopf“ schwindet bereits aus dem Sprachgebrauch. Die Sensibilität gegenüber dunkelhäutigen Menschen ist da bereits wesentlich größer. Es gab sogar ein Rezept, das hieß „Judenbraten“. Das war ein Hackbraten. Jetzt stellen Sie sich vor, ein Restaurant hier in Altlußheim oder Hockenheim würde auf die Karte „Judenbraten“ schreiben – das würde einen großen Aufschrei geben. Denn hier ist die Sensibilität bereits da.
Barbara Schöneberger sorgte jüngst mit dem Satz „Zigeunersauce heißt jetzt Sauce ohne festen Wohnsitz“ für Aufmerksamkeit.
Was sagen Sie dazu?
Franz: Barbara Schöneberger war eine Kollegin von mir. Ich habe zwei Jahre mit ihr beim Fernsehen gearbeitet. Sie sagt diesen Satz als Comedian und Moderatorin. Das setze ich nicht mit den Worten eines Politikers gleich; da steckt auch künstlerische Freiheit dahinter. Aber hätte sie gesagt „Der Mohrenkopf heißt jetzt Süßspeise mit niedrigem IQ“ – wie groß wäre da die Empörung? Ich habe Barbara Schöneberger dazu einen Brief geschrieben, der sie darüber aufklärt, welche Verantwortung sie trägt. So eine Aussage einer Person des öffentlichen Lebens wird nämlich zum Beispiel von Nationalisten oder Rassisten gerne instrumentalisiert. Ich würde Barbara aber nie unterstellen, dass sie rassistisch ist. Ich kenne sie, das ist sie nicht. Das zeigt allerdings, wie unterschiedlich marginalisierte Gruppen bewertet werden. Ich treffe Menschen, die behaupten: „Ich sage ja ,Zigeuner‘ nicht mit dem Wort ,dreckig‘ vornedran. Ich meine das nicht böse.“ Aber würde man seine Nachbarin oder den Bürgermeister mit „Guten Morgen, Sie ,Zigeuner‘“ begrüßen? Seltsamerweise würde sich die Mehrheit da maßlos beleidigt fühlen. Aberich soll damit zufrieden sein? Nein, diese Bezeichnung ist nicht unsere Selbstbezeichnung, sondern eine von rassistischen Stereotypen belastete Fremdbezeichnung aus der Mehrheitsgesellschaft, die in ihrer Tradition und in ihrem aktuellen Gebrauch diskriminierend und rassistisch ist.
Was denken Sie ist die Ursache für dieses Denken?
Franz: Die Ursache ist, dass nach 1945 die Geschichte des Nationalsozialismus zum Großteil tabuisiert und totgeschwiegen wurde. DerVölkermord ist erst 1980 mit großem Druck anerkannt worden. Das sind alles Beweise dafür, wie Antiziganismus bewertet wird. Im Vergleich zu Antisemitismus, Antiislamismus und Homophobie steht Antiziganismus auf der untersten Stufe. Das liegt auch daran, dass wir keine Lobby haben und viele Menschen einfach uninformiert sind. Sinti und Roma zum Beispiel ist eigentlichnur ein deutscher Doppelbegriff. Der ist zwar politisch korrekt, wird aber häufig falsch verwendet. In Deutschland leben rund 300 000 Menschen mit Romani-Hintergrund. Davon sind rund 150 000 Sinti, die zur nationalen Minderheit gehören. An dieser Stelle steigen die meisten schonaus,weil sie die Begrifflichkeiten nicht kennen. Nationale Minderheiten, das sind die Friesen, die Dänen, die Sorben und die deutschen Sinti und Roma, die seit über 600 Jahren hier im Land leben. Hinzu kommen circa 150 000 zugewanderte Menschen mit Romani-Hintergrund – darunter sind die Roma, die Kalé, die Lovara und vielemehr. Diese Vielfalt wird gar nicht wahrgenommen, es wird alles in einen Topf geschmissen.
Wie kann man denn die Menschen erreichen? Vor allem diejenigen, die sich eigentlich nicht mit Menschen mit Romani-Hintergrund beschäftigen wollen?
Franz: Mir ist klar, dass wir Antiziganismus realistisch gesehen nicht in zehn Jahren abschaffen können. Wir müssen aber die Geschichte der Minderheiten in die Curricula und die Erwachsenenbildung einfließen lassen. In die Lehrmittel muss das eingearbeitet werden und die Lehrer müssen von Anfang angeschultwerden. Aber auch angehende Polizistinnen und Polizisten und anderes Personal in sensiblen Institutionen brauchen mehr Kenntnis. Die Betroffenen müssen auf Augenhöhe gleichberechtigt in die Lösungskonzeption miteingebunden werden. Außerdem brauchen wir zusätzliche Mittelfür die Förderung vonInklusion. Erfolgreiche Projekte zur Bekämpfung von Antiziganismus dürfen nicht eingestellt werden, wie es letztens durch Kürzungen im Programm „Demokratie Leben“ der Fall war.
Quelle: Catharina Zelt/Mannheimer Morgen, 19.19.2020
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