Ein Pfälzer Sinto in Straßburg

Fragen an Romeo Franz aus Kaiserslautern, seit 2018 Abgeordneter für Bündnis 90/Die Grünen im EU-Parlament

DIE PFALZ: Sehr geehrter Herr Franz, Sie sind in Kaiserslautern 1966 geboren, leben in Ludwigshafen am Rhein und gehören der Volksgruppe der Sinti und Roma an. Seit Juli 2018 sind Sie Abgeordneter der Grünen/EFA-Fraktion im Europa-Parlament und damit der erste Sinto im Straßburger Abgeordnetenhaus. Wie kamen Sie zur Politik und zur Überzeugung, sich persönlich politisch für Ihre Volksgruppe einzusetzen?

FRANZ: Meine persönliche Geschichte ist ausschlaggebend gewesen. Sechs meiner Onkel und Tanten wurden im Nationalsozialismus ermordet, meine Großmütter und Mutter waren Überlebende dieses Völkermordes und kämpften fast 60 Jahre um ihre Entschädigung und Anerkennung als Opfer der Nazis. Dieser Kampf hat mich geprägt, aber auch meine eigenen Diskriminierungserfahrungen seit meiner Kindheit haben mich politisiert. Antiziganismus begleitet mich sowie die Mehrheit der Menschen mit Romani-Hintergrund, seit ich denken kann. Und es hört leider nicht auf, bis heute geht es weiter, denn auch als Europaabgeordneter bin ich mit Vorurteilen konfrontiert. In den 1990erJahren habe ich mich im Landesverband deutscher Sinti und Roma Rheinland-Pfalz sowie im Zentralrat deutscher Sinti und Roma engagiert, besonders im Bereich Bildung und Kultur. Aber Anfang 2000 spürte ich immer mehr, dass mir diese Form der Bürgerrechtsarbeit im Verein nicht genug war. Es wurde mir immer klarer, dass ich Verbündete außerhalb der Minderheit brauche, um effektiver in der Minderheitenpolitik zu sein. Diese Verbündete fand ich bei Bündnis 90/Die Grünen, besonders bei Menschen wie Claudia Roth und Reinhard Bütikofer, die bis heute für mich wichtige Mentoren und Freunde sind. Dass dies die richtige Entscheidung war, hat sich ja auch deutlich gezeigt.

DIE PFALZ: Gibt es Unterschiede zwischen Sinti und Roma, und wie würden Sie die Lebensgewohnheiten, Sprache usw. beider Minderheiten heute beschreiben? Wie viele Sinti und Roma leben in Europa und in welchen Ländern?

FRANZ: Der Doppelbegriff „Sinti und Roma“ wird fast ausschließlich im deutschsprachigen Raum benutzt und ist politisch korrekt. Doch beschreibt er nicht die ganze Population der Romanes sprechenden Menschen, den Menschen mit Romani-Hintergrund. Es leben ca. 6,3 Mio. Menschen mit Romani-Hintergrund in der EU, und zwischen 12 und 15 Millionen in ganz Europa. Für diese Ungenauigkeit in der Bezifferung der ethnischen Minderheit gibt es verschiedene Gründe. So gibt es Länder in Europa, u.a. auch die Bundesrepublik, die in ihren Bevölkerungsstatistiken die ethnische Zugehörigkeit nicht explizit beziffern. Zudem gibt es insbesondere in den Balkanländern und der Ukraine die Situation, dass ein Teil der Menschen mit Romani-Hintergrund stark ausgegrenzt von der Mehrheitsgesellschaft leben und den Status von Staatenlosen haben, ohne Registrierung bei den Behörden und z.B. auch ohne Zugang zum öffentlichen Gesundheitswesen. Die Vielfalt innerhalb der Gemeinschaft der Menschen mit Romani-Hintergrund ist mindestens genauso groß wie bei der Mehrheitsbevölkerung der europäischen Staaten. Das Romanes, welches aus dem Alt-Sanskrit stammt, hat über 200 Dialekte, und die Religionszugehörigkeiten sind so vielfältig, wie sie nur sein können. Die Menschen mit Romani-Hintergrund sind z.B. in Spanien und Portugal die „Cale“, in Frankreich die „Manoush“, in Schweden die „Rissende“, die „Lovara“ und andere. Alle diese ethnischen Gruppen leben seit 600 bis 900 Jahren in ihren Regionen und sind stark verwurzelt. Als Beispiel: Meine Familie lebt seit über 600 Jahren hier.

DIE PFALZ: Sie konnten 2019 bei der Europawahl wieder Ihren Sitz im EU-Parlament behaupten. Bündnis 90/Die Grünen gewannen 20,5 Prozent der Stimmen und stellten 21 der 96 deutschen Mandate in Straßburg. Was halten Sie von der Politik der neuen EU-Kommission, vor allem von dem von ihr verkündeten „Green Deal“, in dem angekündigt wurde, dass Europa bis 2050 klimaneutral werden soll?

FRANZ: Die Kommission ist mit großen Ankündigungen an den Start gegangen. Es muss sich immer noch zeigen, ob diese Versprechen auch gehalten werden. So wurden im Rahmen des „Green New Deals“ und im folgenden Entwurf des EU-Klimagesetzes ambitionierte Ziele festgehalten – so auch die Klimaneutralität bis 2050. Aber es fehlen noch konkrete Maßnahmen, um diese Ziele tatsächlich zu erreichen. Aktuell erleben wir bei der Reform der Agrarpolitik ein Desaster, denn trotz vieler Reformvorschläge drehen Konservative und Sozialisten im Parlament und im Rat die Uhren zurück, und wir verteilen ohne die notwendigen klimapolitischen Weichenstellungen EU-Milliarden mit der Gießkanne. So werden wir die hehren Ziele der Kommission nicht erreichen.

DIE PFALZ: Sie sind auch stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres. Wie sollte Ihrer Meinung nach die EU auf die Politik des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán reagieren, der seit Ausbruch der Covid19-Pandemie per Dekret regiert und eine „illiberale Demokratie“ propagiert, oder auf die polnische Regierungspartei PIS, die das Prinzip der Gewaltenteilung missachtet und Minderheiten diffamiert?

FRANZ: Meiner Meinung nach müssen die EU-Institutionen den nationalen Regierungen bei Verletzungen der Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit und EU-Grundwerten selbstbewusster gegenübertreten. In diesen Fragen lassen sich in einem demokratischen System nur schwer Kompromisslösungen akzeptieren. Wir sind es den EU-Bürgern schuldig, ihre Grundrechte zu schützen und dafür alle verfügbaren Mittel einzusetzen. Außerdem dürfen wir nicht verkennen, dass sowohl die ungarische als auch die polnische und bulgarische Regierung ein großes Interesse an der Mitgliedschaft in der EU haben, da sie alle in erheblichem Maße von EUFördermitteln profitieren. Diesen Hebel müssen und werden wir nutzen. Außerdem sollten wir einen besseren rechtlichen Schutz unserer Minderheiten in Europa gegenüber Diskriminierung und Ausgrenzung schaffen, der auch deren kulturelle und sprachliche Fortexistenz schützt, wie es derzeit die vielversprechende Europäische Bürgerinitiative „Minority Safe Pack“ fordert.

DIE PFALZ: Wie schätzen Sie den bevorstehenden Brexit ein? Stellt er langfristig eine Stärkung oder Schwächung der EU dar?

FRANZ: In Brüssel sind wir uns alle einig, dass wir das Vereinigte Königreich lieber als Mitglied unserer Union behalten hätten. Es ist schmerzlich zu sehen, was für eine politische Achterbahnfahrt dieser im Land ausgelöst hat, welche ökonomischen Konsequenzen sich für die britische Bevölkerung abzeichnen; übrigens erschreckt auch der Anstieg an Rassismus und Fremdenfeindlichkeit im Land. Die EU hat der Brexit aber nicht in ihrer Stabilität und Solidarität unter den Mitgliedsstaaten geschwächt. Ich glaube, im Gegenteil, der Brexit ist eher ein abschreckendes Beispiel.

DIE PFALZ: Noch eine persönliche Frage zum Schluss: Sie sind leidenschaftlicher Musiker, ihr Großvater war Opernsänger, Sie spielen Geige und waren Schüler des Geigenvirtuosen Schnuckenack Reinhardt. Bleibt Ihnen im politischen Betrieb überhaupt noch Zeit, aktiv Musik zu machen?

FRANZ: Musik begleitet mich schon mein Leben lang, sie ist ein Teil von mir, ich könnte ohne Musik nicht leben. Ich nutze jede Gelegenheit, um Musik zu machen, sei es zuhause mit meinem Sohn Sunny oder wenn ich mich mit Freunden treffe. Musik gibt mir immer wieder die Kraft, meine Aufgaben zu erfüllen. Ich habe mich dafür entschieden, den Menschen eine Stimme zu sein, deren Stimme kaum gehört wird. Ich kann Ungerechtigkeit nur schwer ertragen, deswegen habe ich mich dafür entschieden, mein Leben lang für eine gerechtere Welt zu streiten, damit irgendwann jeder Mensch eine Chance auf eine gleichberechtigte Teilhabe bekommt, um ein menschenwürdiges Leben zu führen.

Quelle: „Die Pfalz“, Zeitschrift für Politik, Kultur und Wirtschaft
Herausgeber: Landesverband der Pfälzer in Bayern e. V.
Redaktion und Anzeigen: Dr. Dirk Klose, Leiter der Geschäftsstelle (V. i. S. d. P.)

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